Fotos: Jochen Gewecke
Gold zu Füßen, die Seele baumelt
Christo und Jeanne-Claude ziehen mit ihren „Floating Piers“ magisch Menschenmassen an
Der Objektkünstler Christo hat ein neues Projekt. Seit dem vorver- gangenen Wochenende verbinden schwimmende Spazierwege zwei Inseln am oberitalienischen Iseosee mit dem rettenden Ufer. Am 3. Juli ist alles vorbei.
Schwapp! Es schwappt. Unter den Füßen schwappt es. Etwas unsicher setzt man Schritt vor Schritt. Es ist ein wenig als ob man auf Watte liefe. Oder auf einem Federbett. In Wahrheit geht man über Wasserwie weiland Jesus. Christo, der Verhüllungskünstler, und seine (seit 2009 nicht mehr lebende, aber dieses Projekt mit konzipiert habende) Frau Jeanne-Claude haben einen neuen Coup gelandet: „Floating Piers“ – ein Boulevard, der auf dem Wasser schwimmt.
Wo vorher nur Wasser war, verbinden jetzt 16 Meter breite und goldgelb glänzende Wandelwege das Örtchen Sulzano am oberitalienischen Iseosee mit den beiden Inseln Monte Isola und San Paolo. Drei Kilometer lang sind die Floating Piers und verführen die Menschen, übers Wasser zu gehen. Und sie tun es. Zu Tausenden. Zu Hunderttausenden. 16 Tage lang.
Schon die Anreise hat etwas von einer Pilgerfahrt. Aus allen Himmelsrichtungen und aus aller Herren Länder reisen die Menschen an. Die meisten Hotels sind längst ausgebucht, am Bahnhof von Brescia stranden manche mangels ausreichender Transportkapazitäten der lokalen Eisenbahn. Vor Ort legen die italienischen Ordnungskräfte eine unerwartete Professionalität in der Kanalisierung der über sie hereinbrechenden Besucherströme an den Tag. Sulzano ist planmäßig abgeriegelt, mit dem Auto kommt keiner auch nur in die Nähe der Piers. Dafür gibt es Parkplätze, Busse, Boote, Wanderwege. Entsprechend parken die Menschen gehorsam, quetschen sich klaglos in Shuttlebusse, hoffen auf eines der wenigen Bootstickets, die nicht schon vorab übers Internet verkauft worden sind, oder machen sich per Pedes auf den Weg.
Und sie merken sogleich: Es hat alles einen eigenen Zauber. Wie schon bei anderen wegweisenden Aktionen von Christo und Jeanne-Claude – viele waren 1995 in Berlin, als die beiden den Reichstag verhüllt hatten – verwandeln sich Menschen in die friedliebendsten und liebenswürdigsten Wesen auf Gottes Erdboden. Während sich anderswo in Europa Menschen bis hin zu gewalttätiger Feindseligkeit bekriegen über die Frage, ob man nun aus der EU austreten soll oder nicht (und just in dieser Zeit dann auch darüber abstimmen), während Flüchtende in Europa Schutz suchen und oft nicht gewährt bekommen und während nicht weit von Europa ganze Städte und Staaten dem Untergang entgegen taumeln, just in dieser Zeit setzt Christo ein Fanal der Hoffnung und entzündet eine Flamme der Freundlichkeit in den Herzen der Menschen.
Nicht nur das, er zieht auch dem bösen Kapitalismus manchen Zahn und achtet auf niederschwellige Zugänglichkeit. Die Piers sind mit Kinderwagen und Rollstühlen befahrbar, die Halbliterflasche Wasser gibt es zum Einheitspreis von einem Euro, Essen und vor der Sonne schützende Strohhüte sind zu fairen Preisen erhältlich, und es gibt ausreichend und vor allem kostenlose Toiletten. Niemand, der nicht will, muss viel Geld ausgeben für den Kunstgenuss.
Der Genuss selbst ist erheblich und durchdringend. Goldgelb liegen die Piers auf dem Blau des Iseosees. Dort, wo das Wasser den Stoff berührt, wird er orange. Wenn die Sonne drauf scheint, beginnt er zu leuchten. Wie die Gesichter der Menschen, die darauf wandeln.
Man geht übers Wasser. Man erobert den See. Man erobert die Landschaft. Man wird eins mit der Umgebung. Man wird eins mit einer Riesenmenge anderer Menschen, die dasselbe tun und kollektiv genießen.
Was hier geschieht, ist nicht museal. Was hier geschieht, ist Kunst am Menschen, eine Transformation hin zu friedlicher Entspannung. Kein anderer zeitgenössischer Künstler setzt so viele in Bewegung und macht sie zu Pilgern. Sie stimmen mit den Füßen ab. Für Freude. Für Gemeinschaft. Für eine vielgläubige und vielsprachige, für eine diverse Einigkeit. Was eine existenzielle Herausforderung für die Europäische Union darstellt, gelingt dem Aktionskünstler spielerisch und wie nebenbei.
16 kurze Tage dauert das Spektakel, dann ist Schluss. Die Folgen? Sie werden weit über den Tag hinaus reichen. Schwapp! Es schwappt. Unter den Füßen schwappt es. Die Seele baumelt.