Teleticker Sonderausgabe 2017

Foto:
TriCon Design AG/Pro RegioStadtbahn e.V.

Tübingen taff auf Wachstumskurs

Boomtown, Schwarmstadt, Publikumsmagnet

Tübingen boomt. Kleinste Schwarmstadt Deutschlands sei sie, so sagt man – also ein Platz, an dem immer mehr Menschen wohnen wollen. Doch nicht nur Wohnen ist ein Wachstumsthema in Tübingen: Gewerbe, Dienstleistungen, Technologiepark, Universität, Kliniken, Tourismus – alles wächst. Und will weiter wachsen. Die Menschen wollen hier arbeiten, forschen, leben, lernen, sein. Ein Ende ist fürs Erste nicht absehbar.

Das Öl des 21. Jahrhunderts

Das alles gründet auf einer Voraussetzung: den schnellen Austausch von Informationen. Daten und ihre Übertragung sind das Öl des 21. Jahrhunderts, ohne sie geht heute gar nichts mehr. Gut, dass die Stadtwerke mit ihrer Abteilung TüNet ein starkes, redundantes Glasfasernetz aufgebaut haben (s.a. „Ist Tübingen dann auch Smart City?“ auf Seite 3). Dieses schafft die Voraussetzung dafür, dass sich die Schwärme hier auch niederlassen können.

Was erwarten Experten?

Wie und wo soll sich Tübingen in den kommenden Jahren entwickeln? Welches sind die großen Projekte? Was erwarten die Experten? Der Teleticker sprach mit Menschen, die den Finger am Puls der Stadt haben – und ein Feeling, Ideen und konkrete Pläne für die Entwicklungen der nächsten Jahre.

Bauboom mit Wachstumsschmerzen
Die großen Linien der Stadtentwicklung bis 2030

„Unglaublich viel wird sich bewegen in der Stadt“: Für den Teleticker gibt Cord Soehlke, Tübingens Baubürgermeister, einen Überblick sämtlicher Planungen und beschreibt die Perspektiven fürs nächste Jahrzehnt. Für alle gut sichtbar, weil „hier jetzt die Häuser aus dem Boden wachsen“, benennt er den Güterbahnhof als „die letzte große Brache“. Sie wird ziemlich fix, nämlich in den nächsten ein bis zwei Jahren bezogen sein. „Das wird ein richtiges Quartier mit 1.000 Miet- und Eigentumswohnungen und spannenden Nutzungs- und Finanzierungskonzepten“, schwärmt Cord Soehlke, bei denen Tübingen – wieder einmal – bundesweit eine Vorreiterrolle einnimmt. Etwas weniger im Fokus, aber auch kein Pappenstiel, sind 100 Wohnungen auf dem ehemaligen Forschungsgelände des Max-Planck-Instituts in der Corrensstraße, die ebenfalls schon nächstes Jahr fertig sein sollen.

Viele, viele kleine und größere Wohnprojekte

Eines davon am Hechinger Eck hat einige öffentliche Beachtung gefunden und auch Diskussionen hervorgerufen. Doch das Maß der geplanten Verdichtung passt durchaus – und auch zur Größenordnung im Loretto-Viertel direkt gegenüber. Vieles kann einerseits Geflüchteten eine neue Heimat bieten, andererseits aber auch „einen Riesenschub für den sozialen Wohnungsbau in der Stadt geben“, so Soehlke. Er bezeichnet die innovativen konzeptionellen Ansätze als „Durchlauferhitzer“, die eben gerade nicht auf Container setzen, dafür aber erstens nachhaltig sind, zweitens Zuschüsse generieren und drittens dauerhaft Kapazitäten schaffen. Auch im Wennfelder Garten wird momentan gebaut. Dort werden die Hälfte der Wohnungen Sozialwohnungen sein und ebenfalls helfen, dass der Tübinger Wohnungsmarkt etwas abkühlen kann.

Wie sind die weiteren Perspektiven ...

... für den Wohnungsbau und die Entwicklung gemischter Quartiere? Ein potenzielles Entwicklungsgebiet liegt an der Marienburger Straße gegenüber der Stadtwerke. Ein anderes – und die letzte Industriebrache – ist das Queck-Areal neben der Alten Weberei. Um die alte Molkerei herum könnte Neues entstehen. Und ein wirklich großes Projekt könnte sich sich an der Achse Westbahnhof/ehemaliges Zoo-Gelände/Schwärzlocher Täle entfalten als neues Quartier von der Größe des Güterbahnhofs. Bleibt noch der Saiben, auf dem ein letztes großes Wohnquartier als Mischgebiet dies- und jenseits der Eisenbahnlinie entstehen könnte.

Gewerbeflächen sind ein rares Gut

Verarbeitendes Gewerbe und Industrie melden ihren Bedarf an. Wo es weitere Flächen geben wird, steht aber noch nicht fest. Zwischen Weilheim und Derendingen könnte das Gewerbegebiet Schelmen eine Erweiterung um bis zu zehn Hektar erfahren. Für die Eignung als Gewerbeflächen werden darüber hinaus die Traufwiesen im Neckartal und die Gegend um den Au-Brunnen geprüft. Alle Gebiete miteinander werden sicher nicht kommen, denn hier kristallisiert sich besonders der Zielkonflikt zwischen ökologischen und ökonomischen Interessen heraus, der bereits zu lebhaften Debatten geführt hat: Es wird dezidierte Entscheidungen geben müssen.

Große Pläne der Kliniken und der Universität

Auch das Uniklinikum und die Universität haben große Pläne und Hunger auf Flächen, auf denen sie wachsen können. „Das Klinikum wird künftig noch mehr Aufgaben übernehmen“, berichtet der Leitende Ärztliche Direktor Prof. Michael Bamberg. Dabei spielt nicht nur die Krankenversorgung eine Rolle, denn Forschung und Lehre gewinnen weiter an Bedeutung. Und die sind – wie die Unternehmen auch – auf die schnellen Glasfaserverbindungen der TüNet angewiesen und profitieren vom hohen Ausbaugrad in der ganzen Stadt: Glasfaser liegt praktisch überall schon „ums Eck“. Cord Soehlke deutet an, dass „ein sehr guter Kompromiss greifbar ist, der die Gebiete auf der Sarchhalde und auf dem Steinenberg mit einbezieht“. Aber auch das bereits überbaute Gebiet des UKT auf dem Schnarrenberg wird „sehr viel dichter werden müssen und in einigen Jahren völlig anders aussehen“, ist sich Soehlke sicher.

Dominosteine machen die Tal-Uni städtischer

Die Bebauung des Schiebeparkplatzes, die Sanierung und der Abbruch von Universitäts-Gebäuden und die Renovierung der Mensa sind der Auftakt für „13, 14 unterschiedliche Bausteine, die das Gebiet wie Dominosteine städtischer machen und stark verändern werden – bis hin zu deutlich mehr Aufenthaltsqualiät mit Plätzen zum Flanieren und urbaner Anmutung“, beschreibt Soehlke die Pläne entlang der Wilhelmstraße.

Entwicklungsflächen in fast allen Teilorten

Und die Teilorte? „In nahezu jedem wird es Entwicklungsflächen geben“, schildert Soehlke. Seine Idee: „Die Stadt kauft die Grundstücke – und nur dort, wo wir alle besitzen, gibt es Bebauungspläne,“ beschreibt er den Mechanismus. Das soll verhindern, dass beispielsweise Großeltern für ihre noch nicht einmal geborenen Enkel Grundstücke kaufen und sie dann Jahre oder gar Jahrzehnte lang brach liegen lassen.

20 Prozent mehr Arbeitsplätze seit 2007

Thorsten Flink, der Geschäftsführer der WIT Wirtschaftsförderungsgesellschaft Tübingen, untermauert die schwunghafte wirtschaftliche Entwicklung der Stadt mit beeindruckenden Zahlen: „Zwischen 2007 und 2016 stieg die Zahl der Arbeitsplätze von 36.000 auf knapp 45.000, also um fast 1.000 pro Jahr. Das sind insgesamt 25 Prozent.“ Große Betriebe wie Horn, Walter oder Zeltwanger konnten in jüngerer Zeit glücklicherweise noch erweitern, doch mittlerweile gehen die Flächen aus.

Auf der Suche nach 10 Hektar

„Wir brauchen in den nächsten Jahren weitere 10 Hektar Gewerbeflächen für die produzierenden Betriebe“, schätzt Thorsten Flink. Hinzu kommt: Tübingen hat einen starken Dienstleistungsschwerpunkt, und das führt zu einer „anhaltend starken Nachfrage nach Büroflächen“. Im Moment entstehen solche am Neckarbogen auf dem Sidler-Areal und sind bereits von der TüNet mit Glasfaser erschlossen.

Strukturierte Inhouseverkabelung mit Vorbildcharakter

Antje Fleischer, Abteilungsleiterin der TüNet, erläutert: „Die Erschließung am Neckarbogen ist ein Pilotprojekt für die strukturierte Inhouse-Verkabelung mit Glasfaser und wird Vorbildcharakter mit Strahlkraft in die ganze Stadt haben. Das Interesse ist enorm“, so Antje Fleischer, „denn wir hatten mit einer Vermarktung im Zeitraum von fünf Jahren gerechnet – und jetzt ging alles viel schneller“. Überhaupt werden Architekten, Baugruppen und Bauherren mittlerweile sensibel dafür, dass Glasfaser bis ins Haus sich zum unerlässlichen Standard mausert. „Da spielt uns die sehr konzeptionelle Stadtentwicklung mit ihrem vielfältigen Nutzungsmix in die Hände“, weiß Fleischer, denn Wohnen und Gewerbe wachsen zusammen. Klar, die sogenannten „First Mover“ wollen schnelle Datenverbindungen, aber nicht nur sie: Wer von zuhause aus arbeitet – und das werden immer mehr Menschen im sogenannten Home Office – braucht sie genauso wie alle, die ihre Immobilien zukunftssicher ausstatten wollen.

Große Dynamik auf der Oberen Viehweide

Schließlich und endlich wächst auch der Technologiepark auf der Oberen Viehweide (TTR): Dessen zweiter Abschnitt wird jetzt städtebaulich entwickelt. Im Moment gibt es dort um die 600 Arbeitsplätze. TTR-Geschäftsführer Thomas Dephoff erwartet einen „Anstieg auf das Doppelte oder sogar eher mehr“. Im Bereich Biotechnologie hat sich in Tübingen ein Cluster gebildet, das große Dynamik entfaltet. Dem Start-up-Status entwachsene Unternehmen wie beispielsweise die CeGaT GmbH bauen auf der Oberen Viehweide selbst und legen ihren Firmensitz ganz bewusst in diesen neuen Stadtteil.

Freihaltetrasse für die RegioStadtbahn

„Im Zuge dieser rasanten Entwicklung wird auch eine Trasse für die RegioStadtbahn freigehalten“, erläutert Dephoff. Dass diese einen Schlenker durch die Obere Viehweide fährt, ist für ihn besonders wichtig, weil die Menschen damit direkt zu ihren Arbeitsplätzen kommen können. Und das ist allemal attraktiver, als wenn man noch weite Wege hätte. Die RegioStadtbahn ist ein deutlicher Gradmesser für die anstehenden Veränderungen in der Region Neckar-Alb und in Tübingen und Reutlingen, die beide ein außerordentliches Wachstum an den Tag legen. Dieses stellt enorme Anforderungen an die Mobilität der Zukunft. „Die RegioStadtbahn ist eine Lösung dafür“, bricht Dr. Gernot Stegert eine Lanze für das ambitionierte Verkehrsprojekt. Der Chefredakteur des Schwäbischen Tagblatts ist überzeugt davon, dass sie mit ihrer hohen Transportkapazität den entscheidenden Beitrag leisten kann, ohne den die gesamte Region im Verkehr zu ersticken droht.

Entwicklung in die Höhe

Auch Dr. Gernot Stegert, Chefredakteur des Schwäbischen Tagblatts, sieht die Konkurrenz, die zwischen den unterschiedlichen Interessen wie Wohnen, Gewerbe und Umweltschutz entbrannt ist. Das fördert eine Entwicklung in die Höhe. Das Kriterium der Sichtachsen auf Schloss und Stiftskirche könnte dabei an Bedeutung verlieren, mutmaßt er, „denn hinter vorgehaltener Hand kommen die Diskussionen mehr in Gang als noch vor ein paar Jahren“. Schließlich: „Mit dem wenigen Grund muss man gut umgehen.“

Wachstumsschmerzen sind der Preis

Die Infrastruktur der Stadt wurde einst konzipiert für 60.000 Einwohner. Da sei es kein Wunder, „wenn die Stadtwerke nachrüsten, Leitungen erneuern und ihre Kapazität erhöhen“. Schließlich leben und arbeiten immer mehr Menschen hier. Dem sind die alten Netze einfach nicht mehr gewachsen: „Wachstumsschmerzen“ nennt Gernot Stegert das und hält die damit verbundenen Baustellen für absolut notwendig.

Wer will auf 40 Millionen Euro verzichten?

Und so sieht er die stürmische Entwicklung der Stadt „mit gemischten Gefühlen“, doch am Ende sehr positiv: Der enorme Aufschwung produziert Steuereinnahmen in Rekordhöhen. „Wer will auf 40 Millionen Euro schon verzichten?“, fragt Stegert. Und: „Über Jahrzehnte haben Straßen, Schulen und andere Dinge aus Geldmangel gelitten. Jetzt werden viele Sanierungen angepackt – gut, dass Tübingen sich diese Erneuerung leisten kann.“ Allerdings: Gerade bei den Schulen ist das schnelle Internet via Glasfaser noch nicht bei den Schülern angekommen: Nur in einer einzigen surfen sie bereits mit High Speed – alle anderen bauen immer noch aufs gestrige DSL. Es bleibt also noch einiges zu tun.