Tübinger Blätter 2017

Fotos: Jochen Gewecke

Nor einen wönzigen Schlock!

25 Jahre Feuerzangenkult an der frischen Winterluft

19 Uhr. Es ist Freitagabend. Der vor dem dritten Advent. Auf dem Haagtorplatz ist schon jede Menge los. Deutlich mehr als sonst. Genau genommen ist er quasi bereits voll. Der Weihnachts­markt ist doch woanders – was ist denn eigentlich hier los?

Ungeübte wundern sich. Eingefleischte, Kenner und Fans freuen sich. Es gibt Feuerzangenbowle. Und das gleich zweifach: als laufende Bilder; und flüssig. Aber jetzt noch nicht. Jetzt üben wir uns in Vorfreude. An der Fassade des Hauses in der Ammergasse 32 hängt, haagtorplatzwärts, eine riesige Leinwand. Über den Platz schallt Musik von Heinz Rühmann: „Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt“. Wahlweise „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“.

Auf einem Gestell in schwindelerregender Höhe thront ein überdimensionaler Topf. Zusammen mit der Filmleinwand ist er ganz offenbar die Quelle der Begierde, denn hier drängeln sich schon jetzt viele Leute und warten geduldig.

19.20 Uhr. Die Zubereitung der Bowle beginnt.

Carsten Schuffert heißt der Mann, der für all das hier verantwortlich zeichnet (s. auch das Portrait in den Tübinger Blättern 2016). Er hatte die Idee, den Film zur Bowle zu bringen – oder die Bowle zum Film. Er hatte die Idee, daraus ein Open Air zu machen und das ganze im Winter stattfinden zu lassen. Und 2017 jährt sich die Veranstaltung zum 25. Mal. Silberhochzeit sozusagen.

„Wieso macht man Open-Air-Kino nur im Sommer?“, das war urplötzlich die Frage, damals vor 25 Jahren, erzählt Carsten Schuffert, der Mann, der bereits mit dem Sommernachtskino den Genuss von Filmen an die frische Luft gesetzt hatte. „Man könnte doch im Winter mal draußen ’nen Film zeigen“, das war die naheliegende Schlussfolgerung. Denn schließlich „war man 25 Jahre jünger. Man machte Dinge, die nicht landläufig so gemacht wurden“. Natürlich waren sofort Zweifler zur Stelle und wussten schon vorab: „So ein Quatsch!“, „die Leute werden frieren“ und „da kommt niemand“.

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Von solchen Bedenken ließ sich ein Carsten Schuffert allerdings nicht drausbringen. „Eine Zeitungsnotiz und ein paar Zettel an der Uni, das war eigentlich alles an Werbung“, erinnert er sich. Und abends kurz vor sieben hatte er noch befürchtet, dass keiner kommen würde. Doch innerhalb von 20 Minuten füllte sich der Platz. Stimmung kam auf bei Film und Hochprozentigem. Der Grundstein für einen Kultabend war gelegt.

2000 bis 2500 Besucherinnen und Besucher sind es jedes Jahr, die das Freiluftspektakel anzieht. Eintritt kostet es keinen, spenden darf man für den AK Asyl (Link setzen). Vielleicht sind es einfach die spielerische Herangehensweise und die Freude am Tun, die auf das Publikum überspringen: „Es ist der Gaudi geschuldet, die Leute sollen ihren Spaß haben“, so beschreibt es Schuffert.

Und so köchelt der Bowlenansatz schon seit 13 Uhr im Edelstahl- Kessel auf dem eigens geschweissten Kocher vor sich hin. Der Kessel war in seinem früheren Leben einmal Industrieteigschüssel in einer Backfabrik. Eine Zeitlang war sogar jemand nach Waghäusel zu Südzucker gefahren, wo ein besonders rühriger Mitarbeiter mittels einer Riesengussform eigens einen Riesenzuckerhut fabrizierte, der dann von dort nach Tübingen verfrachtet wurde. Seitdem jener tolle Südzuckermensch in den Ruhestand ging, müssen es jetzt wieder viele kleine Zuckerhüte tun, die in ein großes, einen Meter hohes Drahtgeflecht über dem Kessel gegeben werden. Ein guter Rotwein, Orangensaft und Gewürze sind im Bowlenansatz. Jetzt schlägt die Stunde des Rum. „Aber der muss 54 Prozent haben“, betont Carsten Schuffert, „sonst brennt’s nicht!“ Quasi Schlock für Schlock wird der Rum mit der Schöpfkelle über den Zucker geträufelt, 40 Liter insgesamt. Der Zucker karamellisiert und tropft in den Bowlenansatz. Das sorgt für den typischen Geschmack der Bowle. Effektvoll und vielfarbig fauchen die Flammen über dem Kessel, lautes Knistern sorgt für den Soundtrack. Das erwartungsfrohe Geraune im Publikum schwillt schlagartig an. Wer dem Kessel zu nahe kommt, muss sich auf heiße Spritzer gefasst machen. Aber die Abschrankungen sind weit genug entfernt, eine Gefahr besteht also für keinen.

19.45 Uhr. Die Bowle ist fertig. Endlich.

Lautsprecherverstärkt schallt Carsten Schufferts Stimme launig und wohl auch nicht ganz ernst gemeint über den Platz: „Und wenn Sie sich unbedingt einmal im Jahr betrinken müssen, dann tun Sie’s doch einfach heute hier!“

Und dann beginnt sie: die kurze, aber heiße Schlacht am kalten Bowlenbuffet. 15 Helferinnen und Helfer schenken in wenigen Minuten 400 Liter Feuerzangenbowle aus. Hinzu gesellen sich im Laufe des Abends noch etwa 600 Liter Glühwein. Das geduldige Warten hat sich gelohnt.

20.00 Uhr. Der Film beginnt.

Die Geschichte des Schriftstellers Dr. Johannes Pfeiffer, der mit den drei „f“: Als Jugendlicher von einem Privatlehrer unterrichtet, entscheidet er sich aus einer feuerzangenbowligen Laune heraus, noch einmal die Schulbank zu drücken, diesmal in einem echten Gymnasium.

Eine Frage der ewigen Kritiker taucht immer mal wieder auf: Ist das ganze hier überhaupt politisch korrekt? Ist der Film, 1945 uraufgeführt, nicht Opium fürs Volk? Ein Volk, das mit dessen Hilfe abgelenkt werden soll, damals wie heute? Das wäre vielleicht doch ein bißchen viel der Bedeutung, eine Überhöhung, die ihm nicht zukommt.

„Mit einem anderen Film würde das Ganze nicht funktionieren“, ist sich Carsten Schuffert sicher. „Es geht darum, einen netten Abend zu haben und in Erinnerungen zu schwelgen“. Und so kommt es Jahr für Jahr für Jahr zum selben Phänomen. Tausende von Menschen amüsieren sich königlich bei Bowle und Film, viele kennen sämtliche Dialoge auswendig, viele sprechen sie mit, viele skandieren „ACKERMANN!“

Jedes Jahr kommen neue Studierenden-Semester hinzu, um sich einweihen zu lassen in den Ritus, dem wohl kaum ein Tübinger Student entgeht und dem viele Ehemalige in ihren Erinnerungen nachhängen. Dass daraus ein Kult wurde, liegt wohl daran, dass praktisch jede und jeder in Deutschland den Film kennt. An der heilen Welt, die er heraufbeschwört. An den Erinnerungen an die eigene Kindheit und an dem Gefühl, noch einmal jung zu sein, das daraus erwächst. Und an der Geselligkeit, wenn die Menschen bei dieser Gelegenheit einmal im Jahr ihre Kommilitonen und ihre alten Freunde wiedertreffen.

Eine traurige Episode gibt es auch in der Geschichte der Tübinger Feuerzangenbowle. Über zwanzig Jahre lang hatte Carsten Schuffert den Kultabend weitestgehend alleine organisiert, Helferinnen und Helfer akquiriert, für die Genehmigungen gesorgt und dafür, dass am Ende des Abends alles wieder fein säuberlich und besenrein zurückbleibt. Dann befand er, jetzt sei es auch mal gut. Und er fand eine engagierte Mitstreiterin, die sich bereit erklärte, die Organisation zu übernehmen: Karin Czuka. Sie konnte die verantwortungsvolle Aufgabe allerdings nur zwei Jahre lang ausfüllen, bevor sie unerwartet einem Krebsleiden erlag.

Ob und wie es jetzt weitergehen sollte und konnte, war eine große Frage. Der Fortbestand der Feuerzangenbowle auf dem Haagtorplatz war dahingestellt. Bis Carsten Schuffert sich entschied, denn Ball bruchlos wieder aufzunehmen und die Stadt Tübingen sich bereiterklärte, als offizieller Veranstalter des Abends zu fungieren.

Im Epilog des Films sagt Heinz Rühmann in der Rolle des Dr. Johannes Pfeiffer: „Wahr an der ganzen Sache ist nur der Anfang. Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir in uns tragen, die Träume, die wir spinnen und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden.“

22.35 Uhr. Menschen sind nur noch vereinzelt auf dem Platz. Dunkel hängt die Leinwand an der Fassade des Hauses Ammergasse 32.

Die Bowle ist getrunken.
Der Kessel abgebaut.
Die Tische verschwunden.
Der Platz gefegt.
Alles ist wie nicht gewesen.

Feuerzangenbowle, die Zutaten:

  • 260 Liter Merlot (französischer Rotwein),
  • 80 Liter Orangensaft,
  • 1 Kilo Zimt,
  • 300 Gramm Nelken,
  • 30 Kilo Zuckerhut,
  • 40 Liter 54%-iger Rum